Ich traf ihn auf dieser Party und beschloss, länger zu bleiben. Wenn er lachte, öffnete sich sein Mund so weit, dass ich Angst hatte in seine Ehrlichkeit zu fallen. Ich schaute ihn neugierig an und lächelte zurück, mit geschlossenem Mund. Wahrscheinlich dachte er, ich wollte mysteriös tun, und ich stimmte ihm zu. Als ich nachhause ging, fühlte sich die Luft im Aufzug merkwürdig warm an. Ich stieg ins Bett und las, bis es draußen wieder hell wurde.
Wenige Stunden später stand ich vor dem Spiegel und putzte mir die Zähne. Ich brauchte nicht so viel Schlaf wie alle Anderen. Ich konnte immer wach sein, solange ich wollte, und niemand würde es mir anmerken. Ich hatte nie Augenringe. Ich fragte mich, wie es aussah, wenn ich mit den Augen rollte. Ich hatte große, runde Augen, meine Mutter nannte sie Puppenaugen.
Ich ging in die Uni und schwieg den ganzen Tag und war froh darüber. Ich kam vor meiner Mitbewohnerin heim, und die Stille in der Wohnung erschien mir plötzlich bösartig. Ich setzte mich ins Wohnzimmer und wartete und las. Meine Mitbewohnerin hörte nie auf zu reden und trotzdem fiel es ihr nie schwer, gleichzeitig zuzuhören. Das erstaunte mich. Manchmal redete sie so viel, dass ihre Worte auf mich herabfielen wie schwere Steine und ich schrumpfte. Aber das störte sie nicht besonders, und ich war froh darüber.
Dass sie heute spät kam, war keine Neuheit. Ich machte sie trotzdem persönlich dafür verantwortlich. Die Stille in der Wohnung wurde lauter und ich setzte mich auf den Boden, um zu meditieren. Ich summte und ohmte, doch das Gefühl der leichten Existenz stellte sich nicht ein.
Das Türschloss klickte und ich öffnete erleichtert die Augen. Hallihallo. Hallo, sagte ich. Sie trat ins Wohnzimmer und runzelte die Stirn. Alles okay?, fragte sie. Ja, sagte ich. Plötzlich wollte ich doch in mein Zimmer gehen und nicht mehr in der Mitte des Wohnzimmers sitzen. Ich war einkaufen, hab dir deine Lieblings-Schoki gekauft. Ihre Worte stachen. Danke, sagte ich und rührte mich nicht. Ach ja, und Moni kommt gleich. Hoffe das ist okay. Sollen wir für dich mitkochen? Ich nickte. Sie verließ das Wohnzimmer.
Ich legte mich mit dem Bauch nach unten auf den Parkettboden. Mein T-Shirt rutschte leicht hoch, und ein Streifen nackter Haut traf auf das Holz und ich erschauerte. Der Boden war kühl und glatt. Ich zog mein T-Shirt weiter nach oben und ließ meinen Bauch großflächig gegen das Parkett drücken. Dann holte ich mein Handy heraus.
3 ungelesene Nachrichten von Mama. Die letzte lautete: Lebst du noch??? Ich suchte im Chatverlauf nach der Partygruppe und scrollte durch die Mitgliederliste. Ich fand ihn und schrieb: hi. Ich biss mir auf die Lippe und sperrte mein Handy und legte es neben mir auf den Boden.
Ich stand auf und mit einem Schmatzen löste sich meine Haut vom Boden. Ich ging in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir und machte eine Serie an. Ich überprüfte zwei Mal, ob ich die Benachrichtigungen an meinem Handy wirklich angemacht hatte. Als meine Mitbewohnerin klopfte und mir durch die Tür hindurch sagte, dass das Essen fertig sei, antwortete ich nicht. Erst als Moni ein paar Stunden später die Wohnungstür hinter sich schloss und meine Mitbewohnerin in ihr Zimmer stapfte, schlich ich mich in die Küche und wärmte mir das Essen in der Mikrowelle auf.
Das Essen schmeckte gut, und ich erfreute mich am leichten Flackern der Lampe, das zusammen mit dem Summen des Kühlschranks die Küche lebendig machte. Meine Mitbewohnerin fand die Küche nachts unheimlich und mied sie. Ich mochte es nach draußen ins tiefe Schwarz zu blicken und mich wie im grummelnden Bauch eines großen Tiers zu fühlen. Ich machte mir einen Tee und verbrannte mir die Zunge. Ein weiterer Blick auf mein Handy und ich sah, dass ich eine Antwort erhalten hatte: hi:) wie gehts?
Ich ging ins Bett und schlief tief und fest und lang. Als ich aufwachte, fasste ich mein Handy den ganzen Tag nicht an. Stattdessen begann ich ein neues Buch zu lesen, in dem Figuren sich trafen, unterhielten, berührten und verließen, und vor allem sehr viele Sachen fühlten. Die Geschichte spielte sich wie ein Puppenspiel vor meinem inneren Auge ab und alle Protagonisten hatten matt schwarze Perlen als Augen. Ich lag unter meiner Bettdecke und blickte mein Zimmer an. Plötzlich fand ich, dass es zu leer sei und dass ich mehr Dinge aufhängen sollte, irgendwann. Ich starrte einen weißen Fleck an der Wand an und mehrere Minuten vergingen. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn mich jemand hart an den Knöcheln greifen und aus dem Bett ziehen würde. Meine Knie würden auf den Boden knallen und ich würde mich mit meinen Handflächen auffangen, auf allen Vieren landen. Dann würde mich jemand schlagen, jedes einzelne mit Gänsehaut überzogene Stück Haut. Und jemand würde sich über meine Unterhose lustig machen, die an meinen Pobacken herabhing, weil ich beim Einkaufen nicht auf die Größe geachtet hatte. Ich fasste mir zwischen die Beine und starrte an die Wand.
Als ich fertig war, fühlte ich, dass Betten nur für zwei Tätigkeiten gemacht wurden: schlafen und masturbieren, und sobald man diese Tätigkeiten vollendet hatte, sollte man das Bett verlassen. Ich war nicht dazu in der Lage das Bett zu verlassen und ärgerte mich über mich selbst und all die verplemperte Zeit. Ich ärgerte mich so sehr, dass ich anfing zu weinen. Weinen beruhigte mich sehr. Manchmal weinte ich so lange, bis ich das Kissen umdrehen musste, um noch einen trockenen Fleck zu finden. Ich genoss das Gefühl, wenn der Rotz mir aus der Nase lief und sich mit den Tränen vermischte und alles zusammen mein Gesicht runterlief und es entstellte, sodass es niemand mehr erkennen konnte, nicht mal ich. Meine Blase stach, doch ich wollte nicht aufstehen und klemmte meine Hände zwischen die Beine, um den Schmerz zu lindern.
Gegen 6 Uhr hörte ich, wie meine Mitbewohnerin nachhause kam. Sie schien nicht allein zu sein. Gackerndes Lachen und hohe Ausrufe drangen durch mehrere Türen zu mir durch und ich lag still und regungslos. Später, als es ruhig in der Wohnung geworden war und ich mich überwunden hatte aufs Klo zu gehen, hielt ich mein Tagebuch in den Händen und schrieb auf eine neue leere Seite: [Hass], und rahmte das Wort drei Mal ein.
Dann griff ich zu meinem Handy und schrieb: ganz gut und dir?
Am nächsten Morgen wachte ich auf, weil mein Handy klingelte. Ich hielt es an mein Ohr und hörte die schrille Stimme meiner Mutter. Nach einigen Sätzen sagte ich: Hallo. Daraufhin sagte sie: Schön, ein Wort von dir zu hören. Woraufhin ich sagte: Ist irgendetwas? Daraufhin sagte sie: Ist irgendetwas?! Ich habe seit Tagen nichts von dir gehört. Ich bin deine Mutter. Ich sorge mich um dich, usw. Woraufhin ich sagte: Ach so. Daraufhin sagte sie: Geht es dir gut? Du hörst dich krank an? Woraufhin ich sagte: Mir geht’s gut. Daraufhin sagte sie: Wie du mit mir redest, als würde es dir körperliche Schmerzen bereiten mit deiner Mutter zu reden. Weißt du eigentlich, wie verletzend das ist? Du bist kein Teenager mehr, usw. Woraufhin ich sagte: Tut mir leid, und auflegte.
Ich ging in die Küche, nahm einen Apfel aus dem Kühlschrank und entschied mich im letzten Moment doch für eine Banane. Ich setzte mich an den runden Tisch und erhielt eine neue Nachricht: joa, wie immer halt;) Ich kaute mein Müsli und dachte nach. Als ich fertiggegessen hatte, schrieb ich: wie geht es dir denn immer?
Mittags saß ich auf einer harten Unibank und hörte zu. Es war der einzige Kurs, bei dem ich mich jede Woche bemühte, anwesend zu sein, weil ich den Dozenten mochte. Es handelte sich um einen Mann im mittleren Alter, der weder lächelte noch seufzte. Er trug sein Wissen an seine Zuhörer heran, als wäre es ihm eine Selbstverständlichkeit und eine Ehre zugleich. Er stellte keine Fragen an die Studierenden und ließ sich nie unterbrechen. Er drückte sich penibel akkurat aus, und sprach sehr trocken. Ich fragte mich, ob ihm aufgefallen war, dass ich jede einzelne Woche da gewesen war, dass ich nie gefehlt hatte, dass ich jedem seiner Worte aufmerksam lauschte. Die Teilnehmerzahl des Kurses schwankte zwischen 5 und 10, und die wenigstens kamen zwei Wochen in der Folge. Es musste ihm aufgefallen sein, dachte ich. Ich verließ den Hörsaal mit einem leichten Lächeln. Er schaute nicht auf.
Draußen im Gang zog ich mein Handy aus der Hosentasche, sah eine neue Nachricht und blieb stehen. Jemand stieß gegen mich. Ich las: so als hätte jeder tag 24 stunden und die woche 7 tage und das jahr ca 50 wochen und mein leben ca 80 jahre… wenn du verstehst was ich meine?
Ich lief weiter und stieg in die U-Bahn nachhause und hörte während der ganzen Fahrt ein Lied auf Wiederholung. Dann holte ich mein Tagebuch heraus und schrieb eine Zeile des Liedtextes auf: A strange and absent country where all your dreams are already happening, where all your fears are red apples to eat and live off. Ich umkreiste die Worte [fears are red apples] und stieg aus der U-Bahn.
Ein paar Wochen später würde ich dieses Zitat zu meinem WhatsApp Status machen und er würde mich fragen, woher ich das hatte, und ich würde ihm den YouTube Link schicken und er würde dankend antworten, dass er seit langem kein so schönes Lied mehr gehört hatte.
Am Tag der Prüfung stand ich nicht auf und schaute stattdessen bis abends aus dem Fenster und fragte mich, ob dem Dozenten, den ich mochte, aufgefallen war, dass ich nicht zur Prüfung gekommen war. Bei Sonnenuntergang griff ich nach meinem Laptop und machte das Lied an und flüsterte die Zeile vor mich hin und lächelte und weinte. Ich nahm mein Handy und schrieb: findest du das lied eigentlich traurig?
Er würde wenige Minuten später antworten: ich finde es klingt eher hoffnungsvoll als traurig. Ich: aber das land der roten äpfel ist doch strange und absent. Er: geht es dir nicht gut? willst du telefonieren? Ich würde die Augen schließen, mein Handy weglegen und mich darauf konzentrieren, wie die Tränen an meinen Wangen herabtropften. Dann würde ich tippen: alles gut danke:) und es löschen und stattdessen schreiben: mir geht es als hätte jeder tag 24 Stunden und jede woche 7 tage und wer bin ich zu sagen, ob das gut oder nicht gut ist? wenn du verstehst was ich meine?
Er würde schreiben: ja. Und ich würde früh einschlafen.
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